Vom "Ding" zum Amtsgericht
Bis zur Zeit Karls des Großen beherrschten die Sachsen die Gegend des heutigen Bielefeld. Eine eigenständige Institution "Gericht" war damals unbekannt. Die Freien eines Dorfes - die "Gerichtsgemeinde" - waren verpflichtet, sich in regelmäßigen Abständen zum "echten Ding" zu treffen. Dort wurde dann unter dem Vorsitz eines Richters Recht gesprochen. Auf der Grundlage ungeschriebenen Gewohnheitsrechts entschied aber nicht der Richter sondern die Versammlung, "der Umstand". Wer sich diesem Verfahren verweigern wollte, musste zur Selbsthilfe (Fehde) greifen. Das Fehderecht gerade der vornehmen, adeligen Freien hat trotz immer wieder verkündeten Landfriedens noch Jahrhunderte weiterbestanden. Die permanente Störung des inneren Friedens durch Fehden war eine treibende Kraft für den Ausbau des Gerichtswesens.Mit der Einführung der Grafschaftsverfassung durch Karl den Großen trat die gräfliche Gerichtsbarkeit hinzu; königliches Recht trat neben das fortbestehende reine Gewohnheitsrecht, das jetzt auch teilweise - wenn auch oft unsystematisch, fallgebunden und wenig abstrakt - aufgeschrieben wurde.
Nach der Gründung Bielefelds (1214) ist der Rat politische Führung und Verwaltung aber auch Rechtsprechungsorgan der Stadt. Das Ratsgericht (Stadtgericht) tagte unter Vorsitz des Richters, der sowohl Mitglied des Rates als auch landesherrlicher Verwaltungsbeamter war. Das Urteil wurde aber nicht vom Richter sondern von den Schöffen gefällt, deren Anwesenheit Pflicht war. Das Gericht entschied über "Strafsachen", in Blutgerichtssachen (mit Beteiligung des Landesherren), vor allem aber auch in zivilrechtlichen Streitigkeiten (Verträge, Testamente), soweit Bürger der Stadt betroffen waren. Das von Münster übernommene Stadtrecht war kein geschlossenes Rechtsbuch, es war ein Gewohnheitsrecht, das sich aus vielen Einzelfällen entwickelt hat und seinen besonderen Schwerpunkt im Recht des Handels und des Geldverkehrs hatte. Eine Appellationsinstanz gab es nicht, allenfalls konnte man aus Münster eine Rechtsweisung einholen. Das Ratsgericht konkurrierte mit einer Vielzahl anderer Gerichtsbarkeiten. Eine westfälische Spezialität (mit Wirkungen im ganzen Reich) war auch in Bielefeld die - in erster Linie für schwere Straftaten zuständige - Feme, ein gar nicht so geheimnisvoller Rest der karolingischen Grafschaftsgerichte.
Das Gogericht in Bielefeld - anfangs ein Volksgericht, an dem alle männlichen Freien des Bezirks teilzunehmen hatten, später besetzt mit gewählten Schöffen - befasste sich vor allem mit Zivilsachen und kleinere Strafsachen, es übernahm dann aber als Nachfolger der langsam verblassenden Femegerichte auch strafrechtliche Aufgaben ("Halsgericht").
Die Gogerichte gingen nach und nach in die Hand des jeweiligen Landesherren über. Seit 1414 gab es in Bielefeld auch ein geistliches Gericht, das für Streitigkeiten mit dem - der örtlichen Gerichtsbarkeit nicht unterstehenden - Klerus aber auch für Ehe- und Familiensachen zuständig war. Mit der Einführung der Reformation gingen diese Befugnisse auf das Gogericht über. Gerichtliche Befugnisse hatten auch die landesherrlichen Amtmänner und die Grundherren über ihre Leibeigenen (Patrimonialgericht). Die Burrichter, Mark- und Holzgerichte befassten sich mit Verstößen gegen die Nutzung der Mark, des Waldes usw. Unter Vorsitz des Burrichters entschied hier noch der "Umstand", das heißt die Gerichtsgemeinde ("Thie"). Die Befugnisse dieser Gerichte wie auch der Patrimonialgerichte gingen im Lauf der Zeit mehr und mehr auf die Gogerichte über. Nach der ravensbergischen Prozessordnungsreform von 1556 gab es nur noch drei Gogerichte, eins davon in Bielefeld, das sogar als Hauptgogericht, das heißt. als Apellationsgericht für die umliegenden Gogerichte fungierte, das Obergericht war in Kleve (die Grafschaft Ravensberg war inzwischen Teil des Herzogtums Berg-Jülich- Kleve-Mark). Zu dieser Zeit hatte sich das römische Recht weitgehend gegenüber dem deutschen Recht durchgesetzt. Die Zivilverfahren wurden schriftlich geführt, auch das bis dahin öffentliche Strafverfahren wurde nach der "peinlichen Halsgerichtsordnung" Karls V. (Carolina) durch ein nichtöffentliches Inquisitionsverfahren ersetzt, die Richter waren jetzt juristisch vorgebildete Landesbeamte. Am Anfang des 18. Jahrhunderts - Bielefeld war inzwischen brandenburgisch-preußisch - wurden die Gogerichte ganz abgeschafft. Die Gogerichte wurden der Verwaltung, den meist verpachteten Ämtern, zugeschlagen, deren Pächter sich nicht unbedingt dem Recht verpflichtet fühlten. Mitte des Jahrhunderts wurde daher in Minden ein Senat gebildet, der als erste Instanz oder nach den Ämtern auch als zweite Instanz Aufgaben der Rechtsprechung wahrnahm, soweit nicht die Stadtgerichte, die die Reformen überlebt hatten, zuständig blieben. Erst in der "Franzosenzeit" Anfang des 19. Jahrhunderts wurden Verwaltung und Rechtsprechung getrennt. Das napoleonische Königreich Westfalen wurde in Departements, Distrikte und Kantone aufgeteilt. Jedem Distrikt wurde ein Tribunal, jedem Kanton ein Friedensgericht zugeordnet. So erhielt auch Bielefeld ein Distriktstribunal. Das Appellationsgericht befand sich in Kassel. Für schwere Straftaten war der Kriminalgerichtshof in Herford zuständig. Rechtsgrundlage war das formelle und materielle französische Recht (Code Napoleon). Mit den Befreiungskriegen und der Wiedereingliederung in den preußischen Staat wurde diese - damals durchaus fortschrittliche - Gerichtsorganisation beseitigt, Stadt- und Landgerichte (auch in Bielefeld) sowie Oberlandesgerichtskommmissionen (Minden später Paderborn) wurden eingerichtet. 1849 traten Kreisgerichte - darunter Bielefeld - an die Stelle der Stadt- und Landgerichte, zweite Instanz war das Appellations- (Oberlandes-) gericht. Das Schwurgericht verblieb in Herford.
Erst seit Oktober 1879 - seit dem Inkrafttreten der Reichsjustizgesetze - gibt es in Bielefeld ein Amtsgericht, das an die Stelle des Kreisgerichts trat. Das Amtsgericht hatte damals einen Richter, fünf Assessoren, 2 Aktuare, zwei Registratoren, einen Rendanten, einen Kanzlisten und je fünf Boten und Exekutoren. Gleichzeitig wurde Bielefeld - nach langem Streit mit Herford und Minden - zum Sitz des Landgerichts bestimmt, Hamm wurde Sitz des Oberlandesgerichts. Im Rahmen dieser Gerichtsorganisation besteht das Amtsgericht Bielefeld bis heute fort. Es hat das Kaiserreich, die Weimarer Republik, das Dritte Reich, überdauert, ohne sich von anderen Gerichten - sei es durch besondere Linientreue, sei es durch ernsthafte Formen von Widerstand - wesentlich abzuheben.
Am Amtsgericht Bielefeld sind heute über 300 Bedienstete tätig, es ist zuständig für die Stadt Bielefeld und für die Gemeinde Schloß Holte-Stukenbrock, also für ca. 350.000 Menschen. Seit etwa 1820 - der Ort der Verhandlungen vor dieser Zeit ist nicht bekannt - hatte das Bielefelder Land- und Stadtgericht - später Kreisgericht - im alten Rathaus getagt. 1867 - 1869 wurde das Gebäude an der Detmolder Strasse (jetzt Arbeitsgericht) erbaut und 1870 bezogen. Das neu eingerichtete Amtsgericht erhielt ein von 1877 -1879 erbautes eigenes Gebäude an der Gerichtstraße (zuletzt Amtsgerichtsgebäude II). Zwischen den Gerichtsgebäuden lag das Gefängnis. Als das Landgericht seinen 1914 - 1917 erstellten Neubau Detmolder Straße/Niederwall bezog, übernahm das Amtsgericht das frühere Landgericht als Amtsgerichtsgebäude I. Da sich auch diese Bauten im Lauf der Zeit als zu klein erwiesen, wurde von 1984 bis 1989 das heutige Amtsgericht an der Gerichtstraße gebaut und nach und nach bezogen.